Ist das alles ganz harmlos… oder doch noch viel gefährlicher?
Selten hat ein nextmove Video für so heftige Reaktionen gesorgt. Uns war klar, dass wir mit dem Thema heißes Eisen anfassen und möglicherweise den Sachverhalt in unserer Berichterstattung nicht komplett abdecken. Daher hatten wir bereits im Video des Faktencheck für dem 29.10. angekündigt. Den wollen wir hiermit liefern. Denn Feedback gab es reichlich, nicht nur in den über 1400 Kommentaren unterm Video, auch Insider aus Industrie und Normierung für Ladekabel haben uns kontaktiert.
Zunächst liefern wir eine kurze Zusammenfassung und Einordnung der Dinge, die im Video zu sehen waren. Danach zeigen wir weitere Quellen für noch größere gefahren auf. Bei den beobachteten Effekten handelt es sich um sogenannte Ableitströme. In den Ladegeräten der Fahrzeuge sind zur Entstörung Kondensatoren als sogenannte Netzfilter geschaltet. Durch deren Funktion ergeben sich Ströme, die über das Gehäuse auf der Karosserie landen. Das ist soweit kein Fehler, sondern ein erwünschter Effekt. Die Ableitströme lagen im Bereich 1-2mA, die zulässige Grenze sind 3mA. Die Ableitung dieser Ströme erfolgt über den PE-Kontakt der Steckdosen, also den Schutzleiter oder die sogenannte Erdung.
In den beschriebenen Fällen war diese Erdung aber fehlerhaft oder nicht vorhanden. Die Folge war, dass unter den geschilderten Umständen die Ableitung über den Menschen erfolgt – spürbar als Stromschlag und ganz klar unangenehm und nicht gewünscht. Für gesunde Menschen sind solche Ströme aber offenbar ungefährlich.
Grundsätzlich bildet der Schutzleiter also einen Stromkreis für den Fehlerfall und bringt die Überstrom-Schutzeinrichtung zum Ansprechen. Die Schutzeinrichtung ist zum einen die Sicherung und noch deutlich sensibler als der RCD oder FI-Schutzschalter. Letztere sind aber erst seit 2006 in Deutschland Pflicht. Viele Zuschauer schrieben uns, es sei ungerechtfertigt das E-Auto in den Fokus zu stellen, weil der gleiche Effekt auch bei Waschmaschinen, Ladegeräten für Laptops oder Toastern auftritt. Wir berichten aber über Elektromobilität und der Ursprung der Recherche war ein Stromschlag am E-Auto – und nicht am Toaster.
Es gab mehrere Zuschriften von Zuschauern, die gleiches erlebt hatten und seitdem ein sehr ungutes Gefühl beim Umgang mit ihren Autos hatten, da sie die Ursache nicht kannten und Schlimmeres befürchteten.
Zuschauer Roland hat sich bedankt und schrieb: “Dank eures Berichtes konnte ich endlich ein bis dahin unerklärliches Mysterium lösen: Wir fahren einen Nissan eNV200 Camper. Letztes Jahr hatten wir den Fall, dass unsere Außendusche plötzlich unter Strom stand. Wir hatten alles mögliche im Verdacht, allerdings nicht den zu dem Zeitpunkt ladenden e-NV200. Auch der Umbauer wusste keinen Rat und hat sogar seinen Elektriker aus dem Urlaub geholt. Wir haben die gesamte Dusche zerlegt und neu zusammengebaut, ohne Ergebnis. Jetzt ist mir klar, dass die Steckdose beim Landwirt wohl nicht geerdet war.”
Flavio aus der Schweiz hatte uns bereits im Winter angeschrieben, er hatte in Flip Flops Stromschläge von seinem Tesla bekommen und hatte einen technischen Defekt in Verdacht und danach kein echtes Vertrauen mehr in sein Auto.
Die Befürchtung vieler Zuschauer, dass wir Medien eine Vorlage für billige Stories gegen das E-Auto geliefert haben, ist nicht eingetreten. Berichtet haben unter anderem Spiegel Online, Focus, Süddeutsche, Auto Motor Sport, Autozeitung, elektroautomobil und weitere.
Stromschlag: Verstecke Gefahr beim E-Auto-Laden | AUTO MOTOR UND SPORT (auto-motor-und-sport.de)
Elektroautos: Stromschlag – wenn Fahrer beim Laden einen gewischt bekommen – DER SPIEGEL
Stromschlag beim E-Auto laden: Ursache | autozeitung.de
Stromschlag beim E-Auto-Laden: So unwahrscheinlich ist diese Situation – News – FOCUS Online
Viele dieser Medien haben sicher auch bei der Autoindustrie Statements angefragt. Aber dort herrscht offenbar Schweigen im Walde. Wenn es kein relevantes Thema wäre, könnte man das doch sagen. Steckt vielleicht doch mehr dahinter? Zum Beispiel die schwierige Entscheidung, die der Hersteller nämlich treffen muss ist: Bin ich als Hersteller verantwortlich für Fehler in der Hausinstallation und muss ich meinen Kunden vor daraus resultierenden Gefahren schützen? Oder stelle ich das Kundenerlebnis des Ladens voran, denn wenn Auto oder Kabel den Fehler erkennen, dann gibt´s keinen Strom.
Einige Zuschauer haben dann noch getestet, ob die Serienkabel ihrer Autos den Fehler ein fehlenden Erdung erkennen. Ein Abkleben der Schutzkontakte am Ladekabel mit Isolierband ist für diesen “Test” ausreichend.
BMW iX3 Flexible Fast-Charger: LED auf Rot, Fehler erkannt, keine Ladung.
Nissan LEAF ZE1 (BJ 2018), keine Fehlererkennung, Zuschauer Gerhard hat 130V und 2mA gemessen. Anders beim Vorgänger! Nissan Leaf mit 24kWh. Zuschauer Kurt meldet keine Ladung ohne Erde.
Beim Polestar 2 von Klaus schaltet die LED am Kabel auf Rot, keine Ladung.
Vom Tesla UMC2 hat nextmove drei Geräte aus 2019, 20 und 21 getestet, die alle den Fehler nicht erkennen.
Bei vielen Zuschauern konnten die Systeme Punkten, bei denen man nach dem Erkennen des Fehlers die Erdüberwachung deaktivieren kann. Das geht z.B. beim gezeigten Audi-System, go-eCharger, Juice Booster2.
In den Kommentaren unterm Video war klar zu sehen, dass viele Elektriker ihren Job verdammt ernst nehmen und für Sicherheit in elektrischen Anlagen sorgen. Auch wenn wir inhaltlich nicht in allen Punkten korrekt waren, haben wir von vielen Leuten, die sich mit solchen Themen beschäftigen Zuspruch bekommen, das wir das Thema aufgegriffen haben. Die Kernbotschaft ist sicher angekommen: kein blindes Vertrauen in Steckdosen, je oller desto riskanter. Der gezeigte Steckdosentester ist bei Amazon jetzt übrigens ausverkauft, bei Elektronik-Fachmärkten ist er aber noch verfügbar.
Denn eine Sache hat unser Video aber auch gezeigt: Steckdosen sind auch in Deutschland eine Gefahrenquelle. Viele Schreiben über Eigenpfusch von Vorbesitzern oder schwarzen Schafen in der Elektrobranche, wörtlich “farbenblinden Elektriker”. In den Kommentaren findet man dutzende Meldungen, wie häufig ungeerdete Steckdosen sind. Es gibt auch Feldstudien aus Deutschland dazu.
Auch auf direktem Wege gab es Feedback von Elektrikern und Insidern, die uns geschrieben haben, das tatsächlich echte Lebensgefahr besteht, wenn andere Fehler vorliegen. Die Gefahr besteht dann nicht wegen fehlenden Erdung einer Steckdose, sondern wenn über den PE aus dem Hausnetz gefährliche Ableitungen auf die Karosserie des Fahrzeuges geleitet werden. Sören, Geschäftsführer einer Elektrofirma schrieb uns: “Angenommen der Schutzleiter ist nicht in der Steckdose, sondern schon weit vorher unterbrochen. Eventuell ist dort noch ein defektes Gerät angeschlossen was deutlich höhere Fehlerströme erzeugt. Dieses Szenario ist nicht unrealistisch.” Ein ähnlicher Effekt besteht natürlich auch, wenn Toaster, Waschmaschine oder Vorschaltgeräte von Lampen zeitgleich ihre Ableitströme auf PE “bunkern”, diese aber nicht in der Erde, sondern auf dem E-Auto landen.
Und es geht noch gefährlicher. Mehrere Insider beschreiben folgendes Problem: “Leider gibt es hier ein noch größeres Risiko, das einige Hersteller nicht berücksichtigen. Leider kommt es immer wieder vor, dass der Schutzleiterkontakt von Steckdosen mit der Phase verbunden ist. Dies kann entweder durch Fehler bei der Erstinstallation auftreten oder bei alten Steckdosen mit klassischer Nullung (Brücke zwischen PE Kontakt und Neutralleiter in der Steckdose) durch einen hohen Übergangswiderstand im Neutralleiter. In diesem Fall liegen auf der Karosserie die vollen 230V mit nur durch die Sicherung begrenztem Strom. In Bayern gibt es gesetzlich geregelte regelmäßige Überprüfungen der Elektroanlagen in landwirtschaftlichen Betrieben, dadurch ist bekannt, dass der Anteil von Steckdosen mit spannungsführendem Schutzleiter nicht unerheblich ist. Die Berufsgenossenschaft schreibt ihren Handwerkern bei Arbeiten auf Kleinbaustellen (nicht geprüfte Elektroinstallation) die Verwendung eines PRCD-S vor, der den Fehler erkennt und den spannungsführenden Schutzleiter unterbricht.”
Solche PRCD-S bieten eine allpolige Abschaltung und damit komplette Sicherheit in beide Richtungen.
Natürlich könnte man einen solchen Schutz auch in ein mobiles Ladekabel für E-Autos einbauen. Grundsätzlich stehen die Hersteller aber vor völlig neuen Herausforderungen. Die Fahrzeuge sind bauartbedingt nun mal beweglich und zugleich hoch mobil und die mitgelieferte Technik soll natürlich in möglichst vielen Ländern funktionieren – die lokalen Bedingungen können in wichtigen Details jedoch sehr stark abweichen. In vielen Europäischen Ländern stellt das Netz unterschiedliche Herausforderungen an Verbraucher, auch die Fehlerhäufigkeit in Installationen schwankt lokal.
Daher stellt sich erneut die Frage: Soll der Hersteller bei so vielen möglichen Fehlerquellen eines Autos die Verantwortung für falsch installierte Steckdosen übernehmen? Die entsprechende Normierung für solche Ladekabel erfolgte 2016. Das Dokument ist über 100 Seiten stark. In der Kommission gab es dazu offenbar ein Ringen, um den besten Weg.
Grundsätzlich gilt: Die Norm für das Notladekabel beschreibt das “Laden an unbekannter Elektroinstallation”. Aber eigentlich können so viele Fehler auftreten, dass der Hersteller dafür keinen Schutz bieten kann. Daher heißt es, wie auch im Video gezeigt: Der Kunde trägt Verantwortung für die Steckdose die er nutzt.
Doch zurück zum worst case: Phase auf PE, also Vollstrom auf der Karosserie. Das Auto selbst bietet idR keinen Schutz davor, ist also nicht in der Lage dies zu erkennen oder abzuschalten. In den nextnews vom 29.10. zeigt nextmove Fallbeispiele externer Tester zur Durchleitung von Strömen über den PE-Pin auf die Karosserie. Auf Grund dieser Gefahr stellt sich die Frage: Gibt es auch ICCB-Notladekabel, die sogar solche Fehler erkennen können und dann die Erdung abschalten, also ein Ladekabel für Haushaltssteckdosen mit integriertem PRCD-S? In der Norm IEC 62752 ist dies geregelt, aber nicht als Pflicht, sondern als Möglichkeit. Tatsächlich gibt es also Hersteller, die ihren Kunden Ladekabel mit diesem zusätzlichen Schutz anbieten.
Grundsätzlich gilt es unter Elektrikern eigentlich als “Nogo”, den PE zu schalten. Die Norm IEC 62752 gestattet dies aber und stellt Bedingungen an die Eigensicherheit der Geräte, sofern die Funktion integriert ist. Erkennbar ist diese Funktion am “PE-mit-Schalter-Symbol” auf dem Typenschild des Ladekabels.
Beim Sonderfall für das Laden von Auto zu Auto (V2L), also ohne Erdung Strom aus dem IONIQ5 in den VW eUp, treten übrigens keine nennenswerten Ableitströme auf, die gegen Erde messbar sind Das Ladekabel von VW/Aptiv erkennt die Fehlende Erdung und lädt nicht. Bei Verwendung des Hyundai-Ladekabels lädt der eUp mit bis zu 2,6 kW (die Schnittstelle liefert max. 3,6 kW), aber bei beiden Autos sind auf der Karosserie gegen Erde nur Spannungen unterhalb von einem Volt messbar. An den Standorten der Fahrzeuge fand zur Absicherung noch eine weitere Messung bei einer ungeerdeten Ladung aus dem Netz statt, die die bekannten Werte zeigte.
Zum Abschluss noch einmal der Hinweis: An einer Wallbox, die ein Elektriker installiert und geprüft hat, könnt ihr sicher Laden. Das gleiche gilt für öffentliche Ladestationen.