Fahrzeuge mit Stromstecker erfreuen sich in Deutschland wachsender Beliebtheit. Im September 2021 etwa betrug der Marktanteil an reinen Elektroautos 17 Prozent. Hinzu kommen weitere 12 Prozent in Form von Plugin-Hybriden, die ebenfalls extern aufgeladen werden können. Elektroautos gelten im Allgemeinen als sehr betriebssicher. Vor der Typenzulassung werden die Fahrzeuge durch die Hersteller und auch die Zulassungsbehörden auf Herz und Nieren geprüft. Insbesondere der Akku wird im Entwicklungs- und Zulassungsprozess unter harten Bedingungen auf seine Belastbarkeit im Alltag und in Extremsituationen getestet. Dabei wird besonders auf Beschädigungen an der Hochvoltbatterie geachtet, denn in diesen Fällen besteht Brandgefahr und die Gefahr eines Stromschlages. Bei Unfällen sollte die Stromzufuhr sofort unterbrochen werden, um Insassen und Ersthelfer nicht zu gefährden. Experten gehen davon aus, dass die grundsätzliche Gefahrenlage bei einem Elektroauto anders, aber nicht höher als bei einem fossil betriebenen Auto ist.
Stromschlag beim Aufladen
Auch das Aufladen der Akkus wird von den Herstellern umfangreich getestet und muss gewissen Prüfungen standhalten. Autofahrer gingen bisher davon aus, dass für Nutzer und Passanten beim Laden eines Elektroautos keinerlei Risiken bestehen. Aber dieses uneingeschränkte Vertrauen scheint nicht gerechtfertigt. Stefan Moeller, Geschäftsführer von Deutschlands führender Elektroauto-Vermietung nextmove, hat am eigenen Leib erfahren, dass von Elektroautos unter bestimmten Umständen eine Gefahr ausgehen kann. In einem YouTube-Video informiert der langjährige Elektroauto-Fahrer die Öffentlichkeit über dieses Sicherheitsrisiko.
Während seines Urlaubs in Kroatien hat der Familienvater den wenige Monate alten Hyundai Ioniq 5 an einer Haushalt-Steckdose des gemieteten Ferienhauses aufgeladen. Beim Einräumen des Kofferraums bekam er plötzlich einen deutlich spürbaren Stromschlag. Passiert ist ihm dabei zum Glück nichts, jedoch hat der Vorfall einige Fragen aufgeworfen: Wie konnte das passieren? Wie gefährlich war dieser Stromschlag? War das ein unglücklicher Einzelfall oder handelt es sich hierbei um ein allgemeines Problem? Und wie kann man Stromschläge verhindern?
Das Zusammenspiel der Faktoren
Natürlich hat dieses Erlebnis dem Elektroauto-Enthusiasten keine Ruhe gelassen. Zurück in Deutschland, haben wir bei nextmove durch Rekonstruktion der Ereignisse und umfangreiche Versuche vier Faktoren identifizieren können, welche zu dem Stromschlag führten: 1. die Verwendung des vom Auto-Hersteller mitgelieferten Notladekabels, 2. ein Ladevorgang an einer nicht-geerdeten Haushaltsteckdose, 3. der Nutzer ist barfuß oder trägt nasses Schuhwerk, 4. es besteht Kontakt mit unisolierten Karosserie-Teilen.
Der Auslöser ist dabei das Laden an einer nicht-geerdeten Steckdose, der in Verkettung mit den drei weiteren Faktoren zum Stromschlag führt. Besonders in Süd- und Osteuropa trifft man häufig auf Steckdosen, die lediglich zweipolig angeschlossen sind. Beim Ladevorgang entsteht in der Ladeelektronik des Autos eine Spannung, die normalerweise über den Schutzkontakt der geerdeten Steckdose abgeleitet wird. Ohne die Erdung baut sich hingegen zwischen Karosserie und Erdboden ein Potential auf. Weil Moeller barfuß unterwegs war, hatte er direkten Kontakt zum Erdboden. Aber auch nasses Schuhwerk auf regennassem Untergrund hätte diese Bedingung erfüllt. Beim Einräumen des Fahrzeuges berührte er zufällig die Verschluss-Öse des Kofferraumschlosses. Dieses unlackierte Teil ist mit der Karosserie verbunden, die wiederum direkten Kontakt zur Elektroanlage des Fahrzeugs hat. Moeller schloss damit den Stromkreis zwischen Karosserie und Boden, wodurch es zur Erdung kam und der Strom durch ihn hindurch floss.
Matthias Güldner, Diplom-Ingenieur und Dozent für Elektromobilität am Elektrobildungs- und Technologiezentrum Dresden, sagt:
“In Deutschland müssen Steckdosen per Gesetz seit vielen Jahrzehnten über eine Erdung verfügen. Trotzdem lauern vielerorts Gefahren in Altbauten und Häusern in denen Steckdosen nur zweipolig ohne Erdung angeschlossen sind oder – und das kommt häufig vor – die Erdung des Hauses durch fehlerhafte Ausführung nicht ausreicht.”
Kein Einzelfall, sondern ein Branchenproblem
Weder das serienmäßige Notladekabel, noch das Onboard-Ladegerät des Hyundai Ioniq 5 verhindern das Laden an einer fehlerhaften Steckdose ohne Erdung. Auch der Stromschlag über den Menschen führt dabei keineswegs zum Abbruch des Ladevorgangs. Wir führten daher gemäß dem oben beschriebenen Testszenario Messungen an verschiedenen Fahrzeugen aus der nextmove-Flotte durch und stellten fest, dass sehr viele gängige Elektroautos keinen Schutz vor möglichen Stromschlägen bieten. Dabei wurden Spannungen bis zu 150 Volt (Audi etron GT) und Stromstärken bis 1,9 Milliampere (Hyundai Ioniq 5) gemessen.
Im Video werden die Messungen und besonderen Umstände zu jedem einzelnen Auto gezeigt. Besonders gefährdet sind Tesla-Fahrer. Bauartbedingt liegt bei Tesla die Spannung sogar auf der nassen Türklinke an, was nach Regen oder einer Autowäsche auftreten kann. Die Wahrscheinlichkeit eines Stromschlags erscheint hier erhöht, da die Klinke naturgemäß häufig berührt wird. Tatsächlich passierte auch einem Nextmove-Mieter mit einem Tesla Model S ein solcher Stromunfall.
Stromunfall: Grenzwerte deutlich überschritten
Dr. Carsten W. Israel, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Kardiologie am Evangelischen Klinikum Bethel und langjähriger Sprecher der Arbeitsgruppe Rhythmologie der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, sagt:
„Der Verband für Elektrotechnik (VdE) hat für gesunde Erwachsene eine maximale Berührungsspannung bei Wechselspannung von 50 Volt, für Kinder eine von 25 Volt festgelegt. Oberhalb dieser Grenzwerte sind Ereignisse prinzipiell als Stromunfall einzuordnen, bei denen eine gesundheitsgefährdende Situation eintreten kann. Um nach einem Stromunfall gefährliche Herzrhythmusstörungen sofort zu erkennen und zu behandeln, ist neben einem 12-Kanal-Elektrokardiogramm (EKG) eine EKG-Überwachung von 24 Stunden erforderlich.“
Nur wenige Hersteller gehen fahrzeugseitig auf Nummer sicher
Die Autohersteller haben zwei Möglichkeiten, den Ladevorgang an ungeerdeten Steckdosen zu verhindern: Über das mitgelieferte Ladekabel oder im Onboard-Ladegerät des Autos. Doch von einem konsequenten Einsatz von Sicherheitsfunktionen kann hier kaum die Rede sein. Die Hersteller laden die Verantwortung offenbar lieber im Kleingedruckten beim Kunden ab.
Hersteller wie Volkswagen beim ID.4 und Audi beim e-tron GT sichern den Ladevorgang zumindest über das mitgelieferte Not-Ladekabel ab. Hier erfolgt eine Fehlerstromerkennung im Ladekabel (ICCB) und der Ladevorgang startet in so einem Fall gar nicht erst. Beim Ladekabel des Audi e-tron GT kann der Nutzer durch manuelle Überstimmung der Warnmeldung den Ladevorgang trotzdem starten.
Aufatmen können auch Nutzer, die intelligente Ladekabel wie den Juice Booster 2 oder einen go-eCharger als mobile Wallbox mit Schuko-Adapter verwenden. Diese Geräte erkennen den ungeerdeten Anschluss und verweigern das Laden. Sie stellen also einen wirksamen Schutz bei allen Fahrzeugen dar, für die keine Fehlerstromprüfung im Auto oder durch das mitgelieferte Notladekabel erfolgt.
Einzig das Modell Renault Zoe und der in Bezug auf die Ladetechnik weitgehend baugleiche Smart weigern sich, unabhängig vom verwendeten Ladekabel, fahrzeugseitig an einer nicht geerdeten Steckdose zu laden. Dies mag für den Nutzer im Einzelfall zunächst unverständlich und umständlich sein. Aber es ist zu begrüßen, wenn Sicherheit oberste Priorität hat.
Nutzer können sich durch einfache Maßnahmen schützen
Elektroautofahrer können nicht davon ausgehen, dass sie überall auf geerdete Steckdosen treffen. Generell sollte das sogenannte Notladekabel tatsächlich nur in Ausnahmenfällen genutzt werden. Dabei ist sicherzustellen, dass man an einer geerdeten Steckdose lädt. Ein einfacher Steckdosentester für wenige Euro kann hier auch bei fremden Steckdosen sofort Sicherheit gewährleisten. Getestet wurden durch Nextmove ausschließlich reine Elektroautos (BEV). Auch wenn Nextmove als reine Elektroauto-Vermietung keine Plugin-Hybride in der Flotte hat, so gehen wir davon aus, dass auch viele dieser Autos das gleiche Sicherheitsrisiko aufweisen.
Für das dauerhafte Aufladen am alltäglichen Stellplatz das Fahrzeuges, egal ob Plugin oder vollelektrisch, geben wir klar die Empfehlung zur Nutzung einer Wallbox. In einem früheren nextmove-Test und Video wurde bereits aufgezeigt, dass eine Wallbox auf 100.000 km gefahrene Kilometer durch eine höhere Effizienz des Ladevorgangs ca. 500€ an Stromkosten gegenüber der Nutzung des Notladekabels einsparen kann. Wer hier auf eine mobile Wallbox mit Fehlerstromerkenung setzt, ist auch an fremden Steckdosen geschützt. Aktuell gibt es zudem 900 Euro staatliche Förderung für die Installation einer Wallbox an privat genutzten Stellplätzen.
Weckruf an Autohersteller
Autohersteller dürfen sich nicht nur darauf beschränken, in der Bedienungsanleitung darauf hinzuweisen, das Auto nur an einer Steckdose zu laden, die den geltenden Vorschriften entspricht.
Die Minimalanforderung ist der Austausch von “dummen” Kabeln durch intelligente Notladekabel, die das Laden an ungeerdeten und damit gefährlichen Steckdosen verhindern. Noch sicherer ist die fahrzeugseitige Erkennung von ungeeigneten Steckdosen und die Verweigerung des Ladevorgangs.
Stefan Moeller sagt:
„Für die Akzeptanz der Elektromobilität in der Breite ist es notwendig, dass von den Autos keine Gefahr für Nutzer oder Passanten ausgeht. Mit unserer Recherche wollen wir für dieses Risiko sensibilisieren und geben den Nutzern konkrete Empfehlungen, wie sie sich auf die sichere Seite begeben können. Gleichzeitig fordern wir die Autohersteller auf, dieses Risiko ernst zu nehmen und zu verhindern, dass Menschen an Elektroautos Stromschläge erleiden. Die Mehrkosten für ein sicheres Ladekabel sind unserer Einschätzung nach vernachlässigbar gering und bieten den Kunden mehr Sicherheit.“
Text, Grafiken, Bilder und alle Zitate können frei verwendet werden. Bitte in eigenen Beiträgen auf das Video oder den Blogeintrag verlinken. Am Freitag, dem 29. Oktober, wird Nextmove in den nextnews – Deutschlands meistgesehener Emobility Nachrichtensendung – auf häufig gestellte Fragen zum Video eingehen und mögliche Rückmeldungen aus der Autoindustrie aufnehmen.